Alle Experten an Bord!

1978. Mein Freund Dieter und ich hängen mal wieder im Partykeller im Haus seiner Eltern ab. Wir sind gerne hier, weil dies nicht die Alltagswelt ist, die mit Hausaufgaben und schnöden Pflichten nervt. Hier unten können wir ungestört Pläne schmieden, uns die Freiheit der großen weiten Welt ausmalen, die wir nicht mit Pauken und Trompeten, sondern mit E-Gitarren erobern werden.

Denn die große Freiheit ist in den 70ern ohne Musik nicht vorstellbar. Wir durchforsten die Plattensammlung von Dieters Vater. „Der Junge mit der Mundharmonika“, nee, das ist nicht unser Ding, aber es gibt ja auch noch die Platten von Dieters großem Bruder. Und was ist das? Auf dem Cover umarmt ein lässiger, langhaariger Typ einen Eskimo. „Dröhnland Sinfonie“, Udo Lindenberg und das Panikorchester. Das hört sich doch schon ganz anders an. Dieter lässt vorsichtig die Nadel auf die wunderschöne, schwarze Vinylscheibe sinken und wir versinken bei einigen Gläschen Berentzen Apfelkorn in einer Welt, in der Ole Pinguin auf Eisbären reitet und mit Hunde-PS über Gletscher gleitet, in der Lady Whiskey, die falsche Schlange, lange nasse Küsse verteilt, bis der Geküsste ertrinkt in der Alkoholpfütze und dann ganz tief in der Grütze. Und wo ein Liebesversprechen alle Grenzen sprengt: 

„Ich liebe hohe Spannung und stehe meistens unter Strom und die Hochzeit, die feiern wir in Panik-Manier im Petersdom."

Auch wir stehen unter Strom. Der Typ kennt uns, er bringt mit seiner herrlich unperfekten nasalen Nuschelei genau das auf den Punkt, was in unseren chaotischen Köpfen herumschwirrt: Fernweh,  Sehnsucht, Liebe, natürlich himmelhochjauchzend, Abgrund, auf jeden Fall zutodebetrübt. Das alles in einer Zeile und egal wie es ausgehen mag, immer easy durchfedern, ne? Das ist Haltung, meine Lieben.

Wenige Tage später wurde die Dröhnland Sinfonie im TV gezeigt. Ich war noch mehr geflasht und seit diesem Tag untermalen die Lieder und tröstenden Zeilen des Weltweisen aus dem Atlantic Hotel die Höhe- und Tiefpunkte meines Lebens. Tatsächlich sah ich Udo in seinen großen Jahren wann und wo es ging. Unter anderem in der Ostwestfalenhalle in Kaunitz. Später hatte ich dann viele andere Dinge zu tun, Udo auch, denn Lady Whiskey flirtete heftig mit ihm, und sein Stern schien ohne weitere Explosionen am Rockhimmel zu verglühen. Bis sich Udo mit „Stark wie zwei“ wie ein Phönix aus der Asche erhob, denn wie jeder weiß „Der Astronaut muss weiter.“

Meine Leidenschaft war kurz darauf ebenfalls neu entfacht. 2011 gelingt es meiner Frau und mir Karten für die Vorpremiere von „Hinterm Horizont“ in Berlin zu ergattern. Wir genießen die Tage im altehrwürdigen Hotel Adlon und erleben eine fantastische Show, an dessen Ende Udo höchstpersönlich auf die Bühne kommt und 4 Zugaben spielt. Mit klarer Birne und Message hebt Udos Panikrakete weiter ab. Die Menschen lieben den geläuterten Helden, der selbst durch so viele dunkle Täler gewandert ist und deshalb glaubhaft verspricht: 

„Wie ein Schatten werde ich dich begleiten. Es ist nie zu spät, um noch mal durchzustarten, weil hinter all den schwarzen Wolken wieder gute Zeiten warten."

2014 stand die erste echte Stadiontour des Panikorchesters auf dem Programm. Innerhalb von drei Stunden war das Konzert in Leipzig ausverkauft. Glücklicherweise gelang es auch mir mehrere Karten für Leipzig und Düsseldorf zu sichern. Warum mehrere? Es war mir ein Bedürfnis meine Familie, Freunde, Partner an diesem Ereignis teilhaben zu lassen. Dementsprechend war die Vorfreude riesig.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass auch für mich schwarze Wolken aufziehen würden und um es mit Udos Worten zu sagen, mein Raumschiff im Feuerball zu verglühend drohte. Eine üble Krankheit fegte mich über Nacht von der Bühne, Bauchspeicheldrüse, Intensivstation, Not-OPs, es war alles andere als lustig. Ganze 13 Wochen verbrachte ich im Krankenhaus und verpasste natürlich all die Konzerte, auf die ich mich so lange gefreut hatte. Dafür erlebte ich, als ich wieder nach Hause zu meiner Familie kam, einen der schönsten und emotionalsten Momente meines Lebens.

No Panik, Dirk. Anna hat ein wunderbares Abendessen zubereitet. Ich bin so froh, wieder bei ihr, Theo und unserem Hund Gustav zu sein, raus aus dem Krankenhaus, wieder mit frischer Luft zum Atmen, zurück in der Welt der Lebendigen. Obwohl ich mich immer noch äußerst schwach fühle, genieße ich jeden Bissen, die vertraute Umgebung. Sie lächelt mich an. Ja, hier ist mein Zuhause. Alles wird gut. Alles ist gut. Dann zieht Anna ein Päckchen hervor, sagt, sie habe ein kleines Geschenk für mich. Eigentlich zum Geburtstag, aber sie könne es nicht mehr so lange aushalten und eigentlich sei jetzt ja auch ein ganz besonderer Augenblick, der Anfang eines neuen Lebens sozusagen.

Ich bin gerührt, wahrscheinlich treten mir die Tränen in die Augen, ich beginne das Geschenk auszupacken, es fühlt sich an wie eine Leinwand. Dann erkenne ich die typischen Farben und Formen der berühmten lindenbergschen Likörelle, die, und das ist Meister Udos Markenzeichen, tatsächlich mit echtem Likör gemalt werden und von denen bereits ein Original mit dem Titel „Ich mach mein Ding“ einen Ehrenplatz in unserer Wohnung hat. Aber hier steht etwas ganz anderes drauf und ich traue meinen Augen kaum: „No Panik, Dirk.“ Eine persönliche Widmung von Udo. Wie kann das denn sein? 

Dann erzählt Anna mir die Geschichte, die mich vollends umhaut und bis heute mit tiefer Dankbarkeit erfüllt.

Sie hat einen Brief an Udo geschrieben, in dem sie ihm von meinem Schicksal berichtet, dass ich nämlich als Fan der ersten Stunde Karten für mehrere Konzerte der Stadiontour gekauft hatte und meine Freunde einladen wollte, dass ich mich gefreut hatte wie ein Schneekönig, dann aber über Nacht von einer heimtückischen Krankheit ausgeknockt wurde und mich jetzt, im Zustand fortschreitender Genesung, mit Sicherheit über einen kurzen Gruß von ihm freuen würde. Darauf war sie mit einer Freundin nach Hamburg gereist und hatte den Brief zusammen mit einer leeren Leinwand, einem frankierten Rückumschlag und der Bitte es an Herrn Lindenberg weiterzuleiten beim Portier des Atlantic Hotels abgegeben.

Likörell für Dirk

Zu ihrer unbändigen Freude lag das „Likörell für Dirk“ schon wenige Tage später in unserem Herforder Briefkasten. Ich drehe und wende das Bild, betrachte es von allen Seiten, befühle die Struktur der Leinwand und bin sprachlos. Wir nehmen uns in den Arm, aber vorsichtig, denn mein Bauch brennt immer noch wie Feuer und halten uns fest. Wenn das nicht Liebe ist, was dann? Nur zu dir fallen mir solche schönen Träume ein, ich will jede Sekunde nur noch mit dir zusammen sein bis ans Ende der Welt.

Wie der weitere Verlauf unserer Geschichte zeigt, war dies nur eine Momentaufnahme. Aber so schön und intensiv, dass ich sie bis ans Ende der Welt in meinem Herzen tragen werde.

Im Jahr 2016 erfüllte ich mir den Traum von einer weiteren Reise in das Panikuniversum. Am 29. April ging ich mit Olli an Bord es Rockliner 4 und damit auf eine ziemlich exklusive Seereise im Fahrwasser der Andrea Doria. Alles klar? Exklusiv, weil die Tour nur einmal im Jahr stattfindet, in der Regel ohne Untergang am Ende, und innerhalb von Minuten ausgebucht ist. Die Warteliste ist mindestens so lang wie der südliche Wendekreis, denn Udos Versprechen hat wahrhaft titanische Verführungskraft:

„Alle Experten an Bord! We rock the Ocean und gucken nach hinterm Horizont, was abgeht.“

Ich hatte mich auf die Warteliste setzen lassen und eigentlich nicht damit gerechnet, zwei der begehrten Tickets an Land zu ziehen. Die Nachricht, dass es geklappt hat, erhielt ich dann während unseres Urlaubs auf Ibiza. Dort verbrachten wir viele schöne Stunden mit Oliver und seiner Familie. Wir hatten sie bei unserem Lieblingsitaliener Salvatore in Herford kennengelernt und nicht schlecht gestaunt, als wir hörten, dass sie zur gleichen Zeit auf die Insel flogen wie wir. Also haben wir mit den besten Vorsätzen unsere Telefonnummern ausgetauscht, dann aber, die relaxte Atmosphäre Ibizas genießend, eigentlich recht wenig Lust auf Smalltalk über unsere Heimatstadt verspürt.

Wie auch immer, als ungesellige Muffelköpfe waren und sind wir auch nicht bekannt und so haben wir uns gleich am zweiten Tag im Jockey Club verabredet. Im Nachhinein eine super gute Idee, denn die Chemie stimmte sofort, die Kinder haben sich so gut verstanden, dass wir sie die den ganzen Tag nicht mehr sahen, die Frauen haben sich mit kühlem Terrassenwein und anderen Leckereien ein schattiges Plätzchen gesucht und Oliver und ich richtig gute Gespräche über Gott und die Welt geführt. Dann klingelte das Telefon. Zwei Tickets für den Rockliner, yeah! Doch wer hatte Zeit und Lust mich so spontan zu begleiten? Ich begann Ollie von der Einmaligkeit der Rockliner Cruises vorzuschwärmen, obwohl ich selbst ja auch noch nie dabei gewesen war.

Die Tage vergingen in einem langen, ruhigen Fluss, die Sonne knallte, die Sterne strahlten, das Mittelmeer glitzerte und wir verbrachten so gut wie jede Stunde miteinander, fühlten uns sauwohl und freundeten uns an. Schließlich warf sogar der professionelle Bedenkenträger Ollie, der von sich selbst behauptet Spontanität sei nicht so sein Ding, alle Bedenken über Bord und sagte zu, mit mir auf Panikkreuzfahrt zu gehen.

Erneut ein Glücksfall, wie man später sehen sollte, denn in den langen Gesprächen an Bord, wir teilten uns eine Kabine, standen morgens zusammen auf und gingen abends zusammen schlafen, schilderte ich ihm unter anderem die Situation meiner Firma. Er versprach sich die Sache genauer anzusehen und wurde nicht nur mein Steuerberater, sondern auch mein Rettungsanker, der genau zum richtigen Zeitpunkt den Crashkurs der Andrea Doria zum stoppen brachte.

Während der Reise lernten wir neben all den anderen Experten auch Stuckiman Stuckrad-Barre kennen, der gerade sein Buch Panikherz herausgebracht hatte und gerne und ausgiebig daraus vorlas. Die geniale und sehr entspannte Festivalatmosphäre an Bord lässt sich kaum in Worte fassen, für mich als Lindenbergianer, der 1978 zusammen mit Dieter die Welt des Panikorchesters entdeckt hatte, war jedenfalls ein Traum in Erfüllung gegangen. 

Ich glaube, dass man auch mit festen Boden unter den Füßen immer mal wieder hinter den Horizont gucken sollte, was abgeht.

Zum Schluss noch einige Gedanken zum Thema Panik. Wenn es zu chaotisch wird heißt Udos Parole: Keine Panik. Wenn es zu gemütlich wird: Mehr Panik. Ich denke, damit liegt man grundsätzlich nie falsch, sowohl privat als auch geschäftlich. Das Leben ist zuweilen chaotisch und beängstigend, da kommt Panik von alleine auf. Ich denke an meine Krankheit. Vor den OPs steht dein Kopf in Flammen. Ich denke an die erste Zeit der Trennung von meiner Frau Anna. Acht Monate Panik. Oder an den Anruf meines Steuerberaters im Jahr 2005 inklusiver gleichzeitiger Aufnullsetzung des Dispos durch die Bank. Je mehr panische Situationen man erlebt, desto weniger lässt man sich davon runterziehen. In Udos Sinne sollte es das Ziel sein, im Laufe des Lebens eine gesunde Keine-Panik-Haltung zu entwickeln und dabei immer easy durchzufedern.

„Denn ich werde mich nicht ändern, werd kein anderer mehr sein, ich habe tausend Pläne, doch ´n Plan B hab ich kein."

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Diese BioFiction Geschichte entstand 2017 im Rahmen meiner biografischen Zusammenarbeit mit Dirk Moysig.
Artwork: Udo Lindenberg
Dirk Moysig ist Geschäftsführer der Moysig Design UG in Herford.