Just visiting this planet*

Ich wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Tabakstadt Bünde in die Ahnenreihe der Heinrichs geboren. Mein Urgroßvater, Großvater und Vater hießen Heinrich, was so viel bedeutet wie "Herr im Haus". Warum ich nicht auch als solcher benannt wurde, sondern als Jörg, was so viel bedeutet wie "Landmann", hat sich mir bis heute nicht erschlossen.

Freiheit unter den Heinrichs

Die Stille, in die ich geboren wurde, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Die wenig befahrenen Straßen waren zum Teil noch nicht asphaltiert, Gärten wurden für den Gemüseanbau genutzt, das Fernsehprogramm begann frühestens um 17 Uhr und man hatte die Wahl zwischen zwei Programmen. Statt Entertainment genossen wir das Paradies für Kinder: Fußballspielen von morgens bis abends, im nahen Wald verstecken, mit Streichhölzern stickern, Klutenschlachten mit der Bande von der Unteren Talstraße. Hauptsache, man war abends wieder zu Hause, zeigte Manieren, wenn die Verwandschaft kam und kriegte es in der Schule einigermaßen geregelt. Ansonsten: Freiheit.

Jenseits des Jägerzauns

Mit Beginn der Pubertät begann ich mich für Literatur zu interssieren. Mit 15 wünschte ich mir zu Weihnachten eine Dostojewski-Gesamtausgabe. Meine Eltern fragten mich nicht, wozu das gut sein solle, freuten sich aber, dass ich neben Fußball ein weiteres Interessensgebiet gefunden hatte. Was glaubte ich eigentlich in den Romanen Flauberts, Balzacs, Dostojewskies, Gogols, Millers und Hamsuns zu entdecken? Nun, ich wollte herausfinden, was faul ist im Staate Dänemark, beziehnungsweise bei uns in Ostwestfalen, denn meine Erkundung anderer Länder und Landstriche hatte zu dieser Zeit gerade erst begonnen.

Mir schien ein Schatten auf der Welt der Erwachsenen zu liegen, der sie davon abhielt frei und freudig durch die Welt zu tanzen, wie es angesichts des wachsenden Wohlstands angemessen gewesen wäre. Später wurde mir klar, dass auf der ganzen Generation meiner Eltern, die im Krieg selbst noch Kinder waren, vor allem die Ungeheuerlichkeit des 2. Weltkriegs lastete. Meine Mutter beispielsweise ist ohne Vater aufgewachsen, der nicht aus Russland zurückgekehrt war. In der Nachbarschaft saß Onkel Gustav mit seinem Halben auf dem Brunnen und verdaute das Erlebnis des  Russlandfeldzugs und der Gefangenschaft. Die unterschwellige Botschaft lautete: Es gibt keinen Grund, große Töne zu spucken, dafür aber viele, dankbar und fleißig zu sein und sich über neue Errungenschaften wie den ersten VW Käfer zu freuen. Diese Einstellung war ganz bestimmt eines der Geheimnisse des Wirtschaftswunders. Wie vielen anderen Babyboomern war mir das allerdings zu pragmatisch und karg. Wir wollten Woodstock statt Bad Salzuflen und Jimi Hendrix statt Karel Gott. Wir schmachteten eher nach Futter für die Seele als nach Butter für das Brot.

80er at it´s best: Katzenfoto im Zimmer der Freundin, Federohrring und Why-Poster. 

So besuchte ich ab Mitte der Siebziger das Ravensberger Gymnasium in Herford, las, spielte im Mittelfeld, feierte, rauchte die ersten selbstgedrehten Zigaretten und Joints, hatte meine ersten aufregenden Annäherungen mit dem anderen Geschlecht und wollte raus aus der provinziellen Enge in die große weite Welt hinaus. Immerhin gelang es mir mit einem Freund, eine Zivildienststelle in der Universitätsklinik Eppendorf zu ergattern. Am Anfang hatten wir nur Absagen erhalten und waren bei unserer zweiten Tour in die Hansestadt drauf und dran aufzugeben, als uns das rote Kreuz des UKE ins Auge sprang.

Wir spazierten unangemeldet in das backsteinrote Verwaltungsgebäude und wurden von einem Altersgenossen mit lässig drapierter Krawatte und schwarzem Al Capone Hut empfangen. Seine einzige Frage lautete: „Wann wollt ihr anfangen?“ und schon hatten wir unsere Stelle. Als wir draußen waren, sahen wir uns verblüfft an. Das erste Mal waren wir nicht bürokratisch ausgebremst, sondern mit lässiger Geste auf die Überholspur gesetzt worden.

Hamburg, meine Perle

Hamburg war Mitte der Achtziger im Herzen bürgerlich, allerdings mit einem großen Herz für Freiheit, denn an der Alster, Elbe, Bill kann bekanntlich jeder ener maken, wat er will. Es gab natürlich diverse Bars und Clubs für Rocker, Waver, Popper, Punker wie das Pickenpack, Grünspan, After Shave, Große Freiheit, Bar Centrale, Kir, Markthalle, Fabrik, Onkel Otto, aber die Veränderung des Stadtbildes durch die allgegenwärtige Szenegastronomie und -kultur wie wir sie heute kennen, nahm gerade erst ihren Lauf.

Wir wohnten im vierten Stock in der Hopfenstraße, blickten über die Bavaria Brauerei auf die Elbe, wo wir das An- und Ablegen der Englandfähre beobachteten und den Geruch der großen weiten Welt aufsaugten. Vor allem gefiel es uns in den Kneipen um die Ecke. Im „Zapfhahn“ erlitten wir bei jeder Begrüßung mittelschwere Quetschungen durch Nobbis Bratpfannenpranke, in der „Domschänke“ wurde uns vom stahlgrau gerauchten Hugo wortlos das Herrengedeck vor den Latz geknallt. Diese Wunden hängten wir wie Zertifikate unserer antibürgerlichen Geisteshaltung an die Wand unserer Lebensläufe.

Am ersten Tag an der Uni wurden wir gefragt, welches Berufsziel uns als Studenten der Nordamerikanischen Sprache und Kultur vorschwebe. Die häufigste Antwort lautete Journalist. Ich sagte, ich wolle Barkeeper in New York werden, was vonseiten des Tutors als einzig realistische Vorstellung eingestuft wurde. Dafür gab es gute Gründe, denn Mitte der Achtziger vermittelte die Gesellschaft uns als heranwachsender Generation, wir seien in jeder Hinsicht viel zu viele und dürften uns, egal ob wir BWL, Philosophie oder Schiffbau studierten, wenig Hoffnungen machen, jemals einen Job zu finden.

Die erste Bar, in der ich während des Studiums Cocktails mixte, lag leider nicht am Hudson River, sondern am Zeughausmarkt, trotzdem war es mir eine  Freude, meine Gäste nach allen Regeln der Kunst, meistens bis in die frühen Morgenstunden zu bewirten. Ab mittags Uni. Professor Herbert Schnädelbach führte in die Schachtelsätze des deutschen Idealismus ein, Professor Joseph Schöpp in die Symbolik vormoderner Romane wie Moby Dick oder in die Cut-Uptechnik der Beat Generation. Ein Highlight meines kulturellen Unilebens war eine Life-Performance des legendären Allen Ginsberg, nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls legendären Je t´aime Stöhner Serge Gainsbourg , dessen Texte wir selbstverständlich auswendig mitstöhnen konnten. Tatsächlich war uns Amerikanisten der „Howl“ des New Yorker Ginsberg deutlicher näher: „I saw the best minds of my generation destroyed by madness.“ Damit konnten wir etwas anfangen.

Industrial Style gehörte dazu. In der Klamotte und der Musik. Entweder bei Konzerten im Kir oder in der Markthalle oder selbstgemacht im Hafen.

Faul im Staate Dänemark

Sicher ließ ich mich von den Inhalten inspirieren, die an der Uni gelehrt wurden, parallel dazu war ich aber weiter auf der Suche nach meiner persönlichen Wahrheit, nämlich nach der Antwort auf die Ausgangsfragen: „Was ist faul im Staate Dänemark? und „Was hält die Welt im Innersten zusammen?“ Meine faustische Suche ist übrigens kein Indiz dafür, dass ich dem Leben feindlich gegenüberstehe, im Gegenteil. Ich liebe das Licht und den Sonnenschein, ich liebe es, neue Landschaften, Städte und Menschen kennenzulernen. Ich genieße den Moment, vor allem aber bin ich ein unverbesserlicher Optimist, im Hinblick auf mein und unser aller Schicksal. Am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende. Alles andere macht überhaupt gar keinen Sinn.

Erwähnenswert scheint mir noch, dass ich die Wahrheit in der philosophischen Fakultät nicht gefunden habe. Das schmälert jedoch nicht meine Bewunderung für einige Geistesgrößen, die mir ans Herz gewachsen sind. Allen voran Immanuel Kant. Zugegebenermaßen gibt es erquicklichere Beschäftigungen, als seine Texte zu lesen, das fanden übrigens auch schon seine Zeitgenossen, seine Menschlichkeit und sein aufklärerischer Geist strahlen trotzdem bis in die Gegenwart. „Das innere Gesetz in mir und der bestirnte Himmel über mir“ waren die Phänomene, die ihn ein Leben lang in Staunen versetzten. Ein weiteres treffendes Motto für unsere Zeit stammt von dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

A German in New York

1991 verbrachte ich ein halbes Jahr in den USA, unter anderem in Chicago, auf der Ostküsteninsel Martha´s Vineyard und in New York als Gasthörer an der Columbia University. Der Start ging nach allen Regeln der Kunst in die Hose. Ich hatte den Tag meiner Ankunft meiner amerikanischen Bekannten per Postkarte mitgeteilt, die mir Monate zuvor, als sie von Hamburg nach New York zurückgezogen war, angeboten hatte, bei ihr zu wohnen. Allein die Kommunikation per Postkarte ist aus Sicht der WhatsApp Generation ein ungeheuerlicher Vorgang, für mich aber hatte die damit verbundene Ungewissheit einen schwer erklärbaren Reiz.

Ich machte mich direkt nach der Landung auf den Weg zu ihrer Adresse nach Manhattan. Vermutlich hätte ich mich vor der Reise intensiver mit dem Stadtplan beschäftigen sollen, denn ich ging ohne weitere Recherche davon aus, dass Avenue A eine Kurzform für Avenue of the Americas ist. So lief ich die Avenue of the Americas rauf und runter, bis ich endlich die richtige Hausnummer gefunden hatte. Merkwürdigerweise fand ich aber auf keinem der malträtierten Klingelschilder ihren Namen. Ratlos drückte ich auf irgendeinen Knopf und hatte wenige Sekunden später die Stimme eines echten New Yorkers im Ohr. „Yeah?“ „Hello, here is Jörg from …“ „Jerk? What do you mean?“ „Do you know Brenda … „, ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als mir eine wüste Schimpftirade entgegenschlug. Die Gegensprechanlage knackte ein letztes Mal und das Gespräch war beendet. 

Es wurde allmählich dunkel und ich muss gestehen, dass mich die Kulisse der Hochhäuser, der kaputten, klippenhohen Bordsteine, der dampfenden Gullys und stumpf dahineilenden Menschenmassen beeindruckt hat.

Ich fand in meinem Reiseführer die Adresse eines Youth Hostels wenige Blocks entfernt, kaufte mir in einem Deli, vor dem der Boss mit einer fetten Zigarre zwischen und einem breiten Grinsen auf den Lippen die Laufkundschaft in den Laden dirigierte, einen Stadtplan, ein paar Dosen Bier, ein Sandwich, Chips und freute mich wie ein Schneekönig über ein abgeranztes Zimmer mit Aussicht auf den Luftschacht. Im Fenster gegenüber wuselten asiatische Köche vor dampfenden Fritteusen, ich fühlte mich wie in einem Jim Jarmusch Film, verriegelte die Tür, knackte eine Bierdose, genoß das eisige Prickeln in meiner Kehle und entfaltete auf dem Bett die Karte Manhattans, studierte den Straßenindex und entdeckte ganz weit oben: Avenue A. Bingo!

Oh, boy!

Am nächsten Tag wanderte ich bei strahlend blauem Himmel und bester Laune ein paar Blocks weiter Richtung Osten bis zur Alphabet City. Wenig überraschend stand auch dort der Name meiner Bekannten auf keiner Klingel. Auch die deutsch sprechende Hausmeisterin hatte den Namen in ihrem Leben noch nie gehört. Am selben Tag wechselte ich in ein anderes Youth Hostel in Midtown, das günstiger und gleichzeitig sauberer war und spulte in den folgenden Tagen ein Sightseeingprogramm ab, bis mir Hirn und Socken qualmten.

Nach einem Kassensturz wurde mir klar, dass ich nicht lange in dem Hostel mitten in der City würden wohnen können. Erst in anderthalb Monaten war ich in Chicago verabredet. Ich ließ also alle Möglichkeiten durch den Kopf rattern und blieb bei Moby Dick hängen. Nantucket heißt die Walfängerinsel vor der Küste New Englands, von der aus die Hauptfigur Ismael in See sticht, New Bedford die Fährstation auf der Festlandseite. Ich dachte Walfängerinsel, warum denn nicht? Und kaufte ein Zugticket nach Providence.

Ich will an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, dass der Bahnhof anders als in Europa nicht im Zentrum der Stadt, sondern fernab auf einem Hügel liegt, dass der Kaugummi kauende dunkelhäutige Taxifahrer Stein und Bein schwor, es würde an diesem Tag kein Bus mehr nach New Bedford fahren und mir dringend davon abriet, in der Stadt zu übernachten, da ich dort aufgrund der hohen Mordrate keine Überlebenschance hätte. Ich will auch nicht weiter darauf eingehen, dass er mir freundlicherweise anbot, mich für einen Freundschaftspreis von knapp 100 Dollar direkt zur Fähre zu fahren, mich stattdessen aber an der erstbesten Polizeistation in New Bedford absetzte, wo die Pizza mampfenden Sheriffs ihren Ohren nicht trauten und mich aus Mitleid zur Haltestelle brachten, von der aus mich der Bus, der eigentlich nicht mehr fuhr, für ein paar Cent zur Fähre transportierte. Nein, auf all diese Details will ich nicht eingehen, vielmehr möchte ich betonen, dass aller Anfang schwer und der Rest meines amerikanischen Abenteuers dafür unbeschreiblich gut gewesen ist.

Übrigens stellte sich später durch ein Schreiben eines Hamburger Freunds an meine Adresse in Chicago heraus, dass die New Yorker Bekannte nur ein paar Straßen weiter gezogen war, sodass ich den Rest des Sommers doch noch in ihrem Apartment auf der etwas gefährlicheren Seite des Tomkins Square Park verbringen durfte. Die alphabetischen Straßennamen standen damals für eine blockweise Steigerung des Überfallrisikos. Avenue A = awfull, Avenue B = bad, Avenue C = criminal, Avenue D = dead und der Franklin D. Roosevelt Drive, kurz FDR für Face Down in the River. 

Liebe ist die größte Kraft

Das Thema meiner Doktorarbeit „Welt und Weltflucht im neueren amerikanischen Roman“ war bereits mit dem Professor meines Vertrauens abgestimmt und ich machte mich an die Arbeit, während ich als professioneller „Funkpilot“ meinen Lebensunterhalt verdiente. Die Funkpiloten hieß ein Hamburger Kurierdienst, für den hauptsächlich Musiker, Künstler, Studenten und andere Freaks lange vor der Epoche der Navigationssysteme mit den Falkplan auf dem Schoß  in ihren schrottreifen Polos und Passats durch die Stadtschluchten düsten.

Wie so oft funkte jedoch die Liebe dazwischen und ich wurde schneller als gedacht Familienpapa einer Patchworkfamilie. Zwei Jahre pendelte ich jedes Wochenende zwischen Hamburg und Herford, bis ich mich entschloss, Hamburg Hamburg sein zu lassen und in Ostwestfalen mein Glück zu suchen.

Ich fand es nach nur einer Initiativbewerbung mit dem Motto „Meine Texte haben Augen“ bei der Bielefelder Verkaufsförderungs- und Werbeagentur ATS. Dort hatte ich das Privileg von großartigen Textern und Sprachgenies wie Hellmuth Opitz  lernen zu dürfen. Nach kurzer Einarbeitung tastete ich mich an anspruchsvolle Kunden wie Claas, Melitta, Reinert und Dr. Oetker heran, textete Kundenmagazine für die Landwirtschaft und entwickelte unwiderstehliche Backpromotions, die die Hausfrauen und -männer Deutschlands dazu animierten Impulskäufe zu tätigen. Mit anderen Worten, ich lernte das Handwerk des Werbetextens von der Pieke auf und suchte nicht mehr die Wahrheit an sich, sondern die Wahrheit der Waren und Marken.

Knochenarbeit

Von meinem ersten Chef wurde ich gewarnt: „Herr Rosenstengel, Texten ist Knochenarbeit. Aber mit zunehmender Erfahrung wird es leichter.“ Er hatte recht. Zur Erklärung der Mühsal des Schreibens möchte ich ein Zitat von Mark Twain anführen: „Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist der gleiche wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.“ Genauso ist es und deshalb gibt es kaum etwas Beglückenderes für mich als einen gelungenen Text.

Bei meiner Arbeit als Texter und Konzeptioner kommt mir entgegen, dass ich die Fähigkeiten und Kenntnisse, die ich während des Studiums erworben habe, miteinander verbinden kann. Der analytische Verstand bringt komplexe Themen auf den Punkt, die sprachliche Intuition schafft lebendigen Ausdruck. Beides ist unverzichtbar und Voraussetzung für Aha-Momente und Lesevergnügen. Dies gilt nicht nur für kurze Textformen, sondern auch für Romane. Man spürt intuitiv immer wie groß der Aufwand ist, den der Autor betrieben hat. Von Gustave Flaubert ist überliefert, dass er wochenlang bis zur Verzweiflung an einem einzigen Satz feilte. Trotz oder gerade wegen dieser Herausforderung hatte ich bei der ATS eine gute Zeit, supernette Kollegen, eine Menge gelernt und fühlte mich 2001 bereit mit der Willing & Able Ideenagentur in die Selbständigkeit zu starten.

Ein Fall für Timo Senner

2013 habe ich meinen ersten Roman veröffentlicht: Nach Asche schmeckt die Nacht ist ein Krimi, der zwar in Bielefeld und Umgebung angesiedelt ist, jedoch nicht als typischer Regionalkrimi zu verstehen ist. Gottseidank haben das auch die meisten Kritiker so gesehen. 

Die Handlung erstreckt sich über neun Tage, entsprechend habe ich mit dem AJZ Verlag eine Lesetour veranstaltet, die an neun Tagen hintereinander an den jeweilgen Schauplätzen wie der Sparrenburg oder dem Obernsee stattfand. Das hat Spaß gemacht und für eine Menge Aufmerksamkeit gesorgt.

"Was Rosenstengels Debüt von vielen anderen abhebt, ist der sorgsame Umgang mit der Sprache. In manchen Passagen blitzt das Philosophiestudium des Autors durch, in manchen der Literaturwissenschaftler, sie wirken dabei allerdings nie gekünstelt, sondern machen beim Lesen einfach Freude."

2014 erschien der nächste Roman mit dem Titel Wir waren die Guten. Mit der Geschichte von vier Freunden wird der Bogen von der Berliner Punk- und Hausbesetzerszene der 80er bis in die Gegenwart gespannt. Im Klappentext heißt es: „Punkroman meets Psychothriller. Provokant, philosophisch, fesselnd wie Hitchcock auf LSD.“ Leider haben wir Wir waren die Guten zu schnell herausgebracht, ohne eine vergleichbare Lesetour wie beim ersten Buch zu organisieren. Das hat die Erfolgsaussichten des meiner Meinung nach deutlich stärkeren Romans erheblich beeinträchtigt. Mit anderen Worten: Wir waren die Guten ist mit einer Auflage von 1.000 Stück noch verfügbar und kann für 12,80 Euro bei mir bestellt werden. 

Gegenwart und Ausblick

Oft werde ich gefragt, wann der dritte Fall des Bielefelder Ermittlers Timo Senner erscheint. Darauf kann ich eine einfache Antwort geben. Wenn mich eine Geschichte so fasziniert, dass ich zusätzlich zur täglichen Arbeit noch die Energie aufbringe, ungefähr ein Jahr lang jedes Wochenende, so gut wie jeden Feierabend und in den frühen Morgenstunden zu recherchieren, zu schreiben, zu überarbeiten, zu verzweifeln, zu jubilieren, bis das Buch endlich so gut ist, dass ich das Gefühl habe, es aus den Händen geben zu können.

Man muss sich diesen Moment vorstellen, wenn das Buch endgültig weg ist, gedruckt, verkauft und gelesen wird. Man ist den Reaktionen ausgeliefert und hat keine Chance etwas zurückzunehmen oder zu verändern. Manche Menschen finden es überragend, manche finden es komplett misslungen und damit kann ich leben. Die schlimmste Reaktion, die man sich als Autor vorstellen kann lautet: „Ganz ok“ oder „Geht so“. Dann weißt du, dass du zumindest für diese Leser ein Jahr vollkommen umsonst in der Knochenmühle um Worte und Geschichten gerungen hast.

Als Nichtschreibender hat man in der Regel keine Vorstellung, welchen Aufwand es bedeutet, eine in sich schlüssige, sprachlich hochkarätige und spannende Story über mehrere hundert Seiten auszubreiten. Wenn ich daran denke, tritt mir nachträglich und vorausblickend der Schweiß auf die Stirn. Ich empfehle also jedem Leser aus Respekt, den Autoren entweder zu beschimpfen oder vor Freude zu umarmen und wenn beides nicht möglich ist, im Sinne Wittgensteins einen Schritt zurückzutreten und zu schweigen.

Dennoch wird der 3. Fall kommen, auf jeden Fall, aber vielleicht mit einem völlig andersartigen Setting. Ich könnte mir vorstellen, Timo Senner während der Gründerzeit, das heißt in der eindrucksvollen und bildreichen Ära der Industrialisierung Bielefelds an der Seite historischer Persönlichkeiten wie Nikolaus Dürkopp auf Verbrecherjagd zu schicken. Ja, ihn auf einem Hengstenberg Rad durch die rußigen Industrieviertel der Stadt zu Ermittlungen im Schützenhaus auf dem Johnnnisberg fahren zu lassen, würde mir große Freude bereiten.

Aktuell bin ich ganz und gar mit dem Aufbau der Biographiewerkstatt-Bielefeld und den täglichen Herausforderungen der Text- und Storyentwicklung mit text-rosenstengel.de befasst und freue mich dabei über jede Form der Unterstützung, konstruktiven Kritik und des Austausches.

* Der Titel „Just visting the planet“ ist an einen experimenteller Film von Peter Sempel über den japanischen Butoh-Tänzer Kazuo Ohno aus dem Jahr 1991 angelehnt.

Fotografie u.a. Marc Becher, aktuelles Porträt: Katrin Biller

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